102-jährige Nachbarin

Zuletzt aktualisiert: 19. August 2024

Was ich von meiner 102-jährigen Nachbarin fürs Leben gelernt habe

War es zu früheren Zeiten noch üblich, dass der Rat und die Weisheiten von alten Menschen geschätzt wurden, habe ich den Eindruck, dass alte Menschen heute oft außen vor gelassen werden und Ihnen gar nicht richtig zugehört wird. Völlig zu Unrecht. Denn von wem können wir bessere Ratschläge bekommen, als von jemandem, der sein Leben schon gelebt hat und auf viele Jahrzehnte Lebenserfahrung zurückblicken kann?

Natürlich bleibt die Zeit nicht stehen. Moralvorstellungen, der Stand der Technik – all dies ändert sich. Aber grundlegende Dinge wie die Einstellung zum Leben und der Umgang mit persönlichen Krisen ändern sich nicht. Umso spannender finde ich es, was mir jemand, der zwei Weltkriege und ein ganzes Jahrhundert an Lebenserfahrung gesammelt hat, mit auf den Weg geben kann.

Wir können von alten Menschen viel lernen

Als ich im letzten Sommer in meine jetzige Wohnung gezogen bin, ist meine Nachbarin Frau W. gerade ausgezogen. Von der Wohnung, in der sie über 60 Jahre lang gewohnt hat, zog sie in ein Pflegeheim. Durch eine Bekannte, die ihre Wohnung ausgeräumt hat, ließ sie mich wissen, dass ich, die Neue im Haus, aus ihrer Wohnung haben könnte, was mir noch fehlt.

Es war ein etwas komisches Gefühl in eine Wohnung zu kommen, in der man noch sehr deutlich die persönliche Note der ehemaligen Bewohnerin sehen konnte und noch seltsamer, dass ich mich hier frei bedienen durfte. So kam ich zu wunderschönem Rosenthal Geschirr, einem Globus aus den 1950-er Jahren und einer Faust-Ausgabe von 1914.

alter Globus

Viel spannender war allerdings das große Bücherregal, was beinahe eine ganze Wand des Raumes einnahmen. Hier befanden sich unzählige Geschichtsbücher. Angefangen von den Goten bis hin zur Zeitgeschichte. Für mich als ehemalige Geschichtsstudentin gewissermaßen ein Paradies.

Ich war neugierig geworden auf die Frau, die hier gewohnt hat und obwohl sie mehr als 75 Jahre älter ist- scheinbar die gleichen Interessen teilt wie ich. Zudem hat es mich erstaunt, dass sie mir, obwohl sie mich noch gar nicht persönlich kannte, so schöne Dinge geschenkt hat.

Aus diesem Grund und um mich bei ihr zu bedanken habe ich Frau W. im Altenheim besucht und einiges aus diesen Gesprächen mitgenommen:

alte Faust Ausgabe

Lektion 1: Dankbarkeit

Als ich das erste Mal bei meinem Nebenjob in einem Altenheim eine 100-Jährige kennengelernt habe, hatte ich große Ehrfurcht vor diesem hohen Alter und habe immer zurückgerechnet, in welchem Alter sie bei historischen Ereignissen war. Frau W. hat mir davon berichtet, wie sie als Kind die Aufregung um die Ausgrabung von Tutanchamun mitbekommen hat (in den 1920-er Jahren!).

Aber auch welche große Not in der Nachkriegszeit geherrscht hat und dass die meisten Menschen in den Trümmern der zerbombten Städte gehaust haben. Für das Rosenthal-Geschirr hatte sie einige Jahre sparen müssen und ihr ist in mehreren Jahrzehnten nicht ein Teller kaputtgegangen.

zerstörtes Köln
Quelle: pixabay, Fotograf: Wikilmages

Dies zu hören hat mich daran erinnert, dass ich dafür dankbar sein sollte in der heutigen Zeit und in Deutschland zu leben. Ich habe viel mehr Möglichkeiten zu Reisen und mir Dinge zu kaufen, als es die meisten anderen Menschen auf der Welt haben. Ich habe keine Kriege erleben müssen und musste nicht erleben, was es heißt zu hungern und um mein Leben zu fürchten.

Lektion 2: Aktiv bleiben

Frau W. hat mir geholfen zu erkennen, wie wichtig es ist Neues zu lernen. Mein allererster Eindruck bei unserer Begegnung war, dass sie nicht so recht in das Altenheim passt. Auch wenn ihr Körper alt ist und das Gehen für sie mühsam ist, erschien es mir so, als ob ihre Seele jung geblieben ist.

Sie interessiert sich für das, was in der Welt geschieht und wollte von mir in allen Einzelheiten wissen, was in „ihrem Haus“ passiert. Die Beschäftigungsmöglichkeiten im Heim sieht sie nicht nur als Zeitvertreib, sondern als Möglichkeit fit zu bleiben und in ihrem Alter noch was zu lernen.

alte Menschen wandern
Quelle: pixabay, Fotograf: Antranias

Ich bin mir sicher, dass es diese Neugierde und die Lust Neues zu erkunden ist, die Frau W. im Geiste jung halten. Sie hat bis ins hohe Alter noch als Wanderführerin gearbeitet, Ausflüge gemacht und Theatervorstellungen besucht. Ich bin überzeugt, dass genau diese Einstellung für ein ausgefülltes Leben bis ins hohe Alter sorgt.

Lektion 3: Gemeinschaft

Obwohl Frau W. keine eigenen Kinder und Enkelkinder hat, hat sie doch einen gut gefüllten Besuchskalender. Auch wenn viele Ihrer Freunde bereits verstorben sind, bekommt sie Besuch von ehemaligen Nachbarn und wesentlich jüngeren Mitgliedern aus ihrem Wanderverein oder der Kirche.

Meine Nachbarn, die immerhin 10 Jahre Tür an Tür mit Frau. W. gewohnt haben, beschreiben sie als sehr hilfsbereite und interessierte Frau. Leider habe ich bei meiner Arbeit im Altenheim gemerkt, dass es alles andere als üblich ist in dem hohen Alter noch viele Kontakte zu haben. Wer also in jungen Jahren gibt und soziale Kontakte pflegt, erlebt auch im Alter Freundschaft und Gemeinschaft.

Hände Großeltern
Quelle: Pixabay, Fotograf: Mishelved

Lektion 4: Loslassen

Frau W. hat mir gezeigt, dass materieller Besitz im Gegensatz zu Erlebnissen vergänglich ist. Bei ihrem Umzug ins Altenheim mussten sie fast all ihre Besitztümer zurücklassen. Zwar habe ich ihr das Bedauern, nicht mehr in den eigenen vier Wänden wohnen zu können, deutlich angemerkt, doch hatte sie in irgendeiner Weise auch ihren Frieden damit gefunden, sich nicht mehr um ihren Besitz kümmern zu müssen. Ihr Zimmer im Altenheim beschränkt sich auf die wenigen persönlichen Dingen, die ihr wichtig sind. Viel wichtiger seien ihr die Erlebnisse im Kopf, die ihr im Gegensatz zu so vielen an Demenz erkrankten Menschen, geblieben sind.

Überrascht hat mich auch, wie offen sie über ihren eigenen Tod spricht. Sie scherzt damit, dass es jederzeit für sie dabei sein könnte und sie ihre Schokolade daher bald essen müsse oder sich mit dem aktuellen Buch beeilen müssen. Die Akzeptanz ihres eigenen Todes und das Leben im Hier und Jetzt haben mich sehr beeindruckt und bewusst gemacht, dass auch ich keine, Gewissheit habe, dass ich noch Jahrzehnte vor mir habe und das Leben im Hier und Jetzt stattfindet. Was am Ende des Lebens bleibt, ist nicht unser Besitz, sondern das wir erlebt haben.

Gespräch mit alten Menschen
Quelle: pixabay, Fotograf: quintheislander

Bucket List-Fazit:

Bei all den Dingen, die ich in meinem Leben noch vorhabe, frage ich mich manchmal wie ich all das in einem Leben schaffen soll. Eine Lösung ist möglichst fit und gesund ein langes Leben zu führen. Ich bin überzeugt, dass Frau W. ihre Neugierde, enge Freundschaften und ein aktiver Lebensstil geholfen haben, eine relativ fitte Hundertjährige zu werden.

Aber es geht nicht nur darum möglichst lange zu leben, sondern viel mehr darum möglichst gelebt zu haben und sich bis in hohe Alter seine Lebensfreude zu bewahren. Die Gespräche mit Frau W. haben mich darin bestärkt, dass Besitz nicht glücklich macht, sondern Erlebnisse und soziale Kontakte.

Man kann noch so viel besitzen und sich doch einsam fühlen oder frustriert darüber sein, was man sich alles nicht leisten kann. Stattdessen ergibt es Sinn, den Blick andersherum zu wenden und zu sehen, wofür man dankbar sein kann und was das Leben an wunderbaren Erlebnissen bietet.

Denise Ni

Bucket Listerin, Online-Marketing-Enthusiastin und Neu-Mama

Seit 2017 ist Denise begeisterte Bucketlisterin. Auf ihrem Blog berichtet sie in über 130 Beiträgen von ihren eigenen Erlebnissen. Überdies unterstützt sie ihre Leserschaft dabei, eine eigene Bucket List zu erstellen, Bucket List Ideen zu finden und die eigenen Ziele zu erreichen.

Ihre Begeisterung für das Thema spiegelt sich auch in ihren drei Büchern wider, die sie zusammen mit dem Remote Verlag veröffentlichte. Als Bucket List-Expertin war sie bereits zu Gast im SWR 2 Radio und weiteren Print- und Onlinemedien (Über Mich).

1 Kommentar zu „Was ich von meiner 102-jährigen Nachbarin fürs Leben gelernt habe“

  1. Victoria von Mamioase.com

    Bin ich auch deiner Meinung, dass man trotzdem ein Ohr offen haben sollte für die ältere Generation. Sie haben unsere Problemchen schon durchlebt und können uns manchmal einen weisen Rat geben. 😉

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